Horror / Mystery - Roman
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London 1895 ‒ Der Nervenarzt Dr. Keneth Brown erhält ein mysteriöses Telegramm, welches ihn zur Edward Forn Street Nummer Elf zitiert, dem Anwesen eines der angesehensten Aristokraten der Londoner Oberschicht ‒ Sir Gregor Blame.
Brown wird ohne jegliche Informationen, was den Grund des Gesuchs betrifft, im Anwesen empfangen. Doch anstatt Antworten zu geben, werfen die Bewohner des Hauses nur noch mehr Fragen auf, von dessen Lösung bald schon das Leben des Arztes abhängt.
Denn Brown kann aus unerfindlichen Gründen das Haus nicht mehr verlassen.
Er macht sich auf die Suche nach Antworten und tritt einem Schrecken gegenüber, der seine schlimmsten Albträume in den Schatten stellt.
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Wem kann er trauen, wenn die Realität nicht mehr das ist, was scheint, und sich die Schlinge um seinen Hals von Sekunde zu Sekunde fester zieht?
Die Kutsche reduzierte ihre Geschwindigkeit und kam zum Stehen. Ich war an meinem Ziel angekommen, in der Edward Forn Street Nummer Elf. Ich hörte den Kutscher vom Bock springen und das Geräusch seiner Stiefel auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Es war Herbst und die Wolken am Himmel hatten seit Tagen keinen Sonnen-strahl auf die Erde hindurchbrechen lassen. Die Tür öffnete sich und ich erkannte eine langgezo-gene Gestalt in der Öffnung stehen, schwarzer Mantel, schwarzer Zylinder. Die hageren Gesichtszüge des Man-nes, welcher mich hierher gebracht hatte, wirkten kränk-lich. Das Licht der Gaslaterne am Rande des Bürgersteigs warf tiefe Schatten um seinen heruntergezogenen Mund. Ohne ein Wort zu sagen, machte der Mann eine Handbe-wegung und forderte mich damit auf, auszusteigen. Ich umfasste meinen Gehstock eine Nuance kräftiger, dann setzte ich mich auf und stieg umständlich aus dem noblen Vehikel aus. Es nieselte und die feinen Tröpfchen befeuchteten das Glas meiner Brille. Ich setzte meine Melone auf und trat die zwei Schritte auf den Bürgers-teig. Der Kutscher schloss die Tür und ging, ohne mich weiter zu beachten, zurück zum Bock. Kurz hielt er inne und wandte seinen Kopf in meine Richtung. »Wir sind da!« Er wies mit seiner in einen schwarzen Lederhandschuh gefassten Hand auf das Haus, vor dem wir gehalten hatten. Ich nickte bedächtig. Er würde mich nicht begleiten, deshalb verkniff ich mir die Frage. Darauffolgend drehte ich mich um und musterte die Umgebung. Ich war noch nie in dieser Gegend von London gewe-sen. Hier reihten sich die Villen der gut betuchten Gesell-schaft aneinander. Von hohen Mauern und Zäunen umge-ben. Sie sollten Schutz bieten. Vor dem, was hier draußen lauerte. Doch selbst die besten Schutzmaßnahmen wür-den ihnen nicht helfen. Das, was diese Menschen fürchte-ten, war bereits in ihnen. In ihren Häusern, in ihren See-len. Die Gaslaterne zu meiner Linken flackerte. Die Nacht war kalt und es roch nach verbranntem Nadelholz. Ich mochte den Geruch. Er löste in mir etwas Heimeliges aus und ich wusste gar nicht, warum das so war. Meine Schritte hallten auf den Pflastersteinen wider und ich durchquerte das schmiedeeiserne Tor des Anwesens vor mir. Es quietschte leicht und schepperte, als es unbeab-sichtigt schnell wieder zufiel. Einige steinerne Treppen-stufen führten mich unter einen Vorbau. Warmes Licht schien aus dem Inneren des Hauses. Feine Mosaikglas-scheiben verwehrten mir einen Blick durch die Eingangs-tür zu erhaschen. Ich betätigte den Türklopfer, der einen Engelskopf darstellte. Aus dem Inneren des Hauses waren Schritte zu hören. Durch das Türglas erkannte ich eine Person, die sich näherte und schließlich die wuchtige Eichentür öffnete. Ich blickte in die Augen einer jungen Dame, deren Al-ter ich schlecht schätzen konnte. Sie war schlank gebaut, ja fast schon hager und trug ein einfaches beigefarbenes Kleid. Ihre blonden Haare fielen ihr offen auf die Schul-tern, was mich darauf schließen ließ, dass sie keine Be-dienstete war. Zumindest entsprach ihr Auftreten nicht dem Dresscode der feinen Londoner Gesellschaft. Sie musterte mich einen Augenblick, dann lichtete sich ihr Antlitz. »Doktor Keneth Brown, wir haben Sie bereits erwartet.« Sie trat beiseite und machte eine einladende Geste. Ich durchschritt den Eingang und schaute mich aufmerk-sam um. Hinter der Haustür erwartete sich eine impo-sante Eingangshalle. Ein in Gold gefasster Kronleuchter hing an der Decke und erhellte das Haus in gedämpftem Licht. Zierrüstun-gen säumten die mit Holz verkleideten Wände zwischen den Türen, die von der Halle abgingen. Gegenüber der Haustür lag eine breite Treppe, die auf eine Zwischen-ebene und dann links und rechts in das obere Stockwerk führte. Das Anwesen strotzte vor Prunk, welcher sich jedem Besucher unaufgefordert aufdrängte. Ich war beeindruckt und gleichzeitig regte sich in meinem Inneren eine Art Widerstand, ja fast schon Abneigung. Es war eine Ah-nung, die sich mir aufzwängte und mich auf den Charak-ter des Hausherrn schließen ließ. Doch da war noch mehr. Ich konnte es in diesem Moment nicht wirklich fassen. Es war etwas, dass hinter dem Offensichtlichen lag. Hinter dem Prunk, den Bildern und den glänzenden Rüstungen verborgen. Etwas, was mir Angst machte. »Ich nehme Ihnen Mantel, Stock und Hut ab, Herr Doktor«, hörte ich die Stimme der jungen Dame. Ich wandte mich um und nahm meine Melone ab. Die Dame half mir, meinen Mantel auszuziehen und blickte anschließend auffordernd meinen Gehstock an. »Danke, aber diesen werde ich behalten. Auch Ärzte haben ihre Leiden. Bei mir ist es der Rücken.« Die Dame lächelte schief, dann verschwand sie in ei-nem Raum rechts der Haustür. Meine Schritte verursachten auf den schwarz-weiß karierten Fliesen ein Echo. Trotz der Größe des Raumes war es angenehm warm. Aber das konnte auch nur dem anfänglichen Temperaturunterschied von draußen ge-schuldet sein. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf ein übergro-ßes Gemälde, welches nahezu die gesamte Wand auf der Zwischenebene einnahm. Man musste unweigerlich in die Gesichter der porträtierten Personen schauen, wenn man die Treppe zum Obergeschoss hinaufstieg. Sir Gregor Blame mit seiner Gattin, so schätzte ich. Eine hervorra-gende Arbeit und ausgesprochen teuer. Schon allein auf-grund der Größe. Das Porträt musste vor vielen Jahren angefertigt worden sein, denn in den Gesichtszügen des Paars zeichnete sich ein gewisser jugendlicher Teint ab. Der Künstler hatte es geschafft, Blame und seine Gattin in der Zeit ihrer Blüte festzuhalten.